Freizeit ≠ Muße ≠ Faulheit

Beim Thema „Entschleunigung“ spielen die o.g. Begriffe direkt oder indirekt eine zentrale Rolle. Und ich finde, es lohnt sich, diese genauer unter die Lupe zu nehmen ;-): Was ist eigentlich der Unterschied von „Freizeit“ und „Muße“? Und wie verhält es sich so mit der „Faulheit“? 

Mit Muße bezeichnet man die Zeit, welche eine Person nach eigenem Wunsch nutzen kann, ohne Ziel und Zweckgebundenheit. Nicht alle Freizeit ist damit gleichzeitig auch Muße, da viele Freizeitaktivitäten direkt und indirekt von Fremdinteressen bestimmt werden und Freizeit letzten Endes dazu dient, wieder fit für den Arbeitsalltag zu werden. Oder wie sagt Adorno so schön (siehe auch weiter unten im Beitrag): „Freizeit aber ist nur die regenerative Phase, die der Arbeitsphase untertan ist.“

„Müßiggang ist aller Laster Anfang“ (2. Thessalonicher 3,1-18). Wie im Beitrag „Die westliche Arbeitsmoral – eine christliche Tugend?“ noch genauer eingegangen werden wird (ET:13.12.), ist es (auch) unsere christlich geprägte Tradition, durch die uns Muße als verwerfliche Eigenschaft eingeimpft wurde und mit dem ebenfalls entsprechend negativ besetzen Begriff „Faulheit“ gleichgesetzt wird. (→Blogbeitrag „Faulheit und Muse – Die Entdeckung der Langsamkeit“ ET: 20.12.)

Faulheit (abmildernd auch Trägheit genannt) wird in Wikipedia definiert als: „der mangelnde Wille eines Menschen, zu arbeiten oder sich anzustrengen.“ Beides kann als solches mit Muße gleichgesetzt werden. Richtig! Doch ist bei der Muße noch etwas ganz entscheidend: Der Wille, sich ganz BEWUSST diesen Freiraum des Nichtstuns einzuräumen! Ganz wissentlich für seine ganz persönliche Entspannung, zum Seele baumeln lassen und schauen, was da in einem passiert. Ganz ohne ein bestimmtes Ziel und ganz ohne jede Anstrengung etwas erreichen zu wollen. Einfach nur „bei mir sein“, „selbst-bestimmt sein“, also selbst bestimmen, was man will und tut. Man wäre dann auch weniger anfällig für Manipulationsversuche der Außenwelt. Nur – frage ich Euch – ist das denn überhaupt gewollt von Wirtschaft und Politik? Die Antwort liegt auf der Hand ;-).

Heutzutage nutzen wir die Freizeit – also unsere „freie Zeit“ nicht für Müßiggang, also einem ziellosen Nichtstun bzw. sich Entspannen im Selbst. Sondern da wir in der Freizeit auch noch mehr leisten wollen (und sollen?!), ganz im Sinne des „immer mehr“ packen wir noch Erlebnisse und Aktivitäten rein, was dazu führt, dass wir uns immer mehr abhetzen und sich das Gefühl breit macht, alle Ruhe verloren zu haben und wir uns so nur noch als Getriebene (von wem eigentlich?) fühlen. Darum ist Stress eben gerade ein Phänomen unserer Zeit. Hat man doch früher noch viel mehr und körperlich viel härter gearbeitet!

Nichtstun, geht das denn überhaupt? Schwierig in einer über Leistung & Produktivität definierten Weltanschauung, denn gar nichts zu tun ist nicht effizient. Bei den alten Griechen war die Muße ein hoch geschätzter Zustand für Privilegierte. Das Gegenteil von Arbeit und Verpflichtung. Muße heißt ziel- und zweckfreies Sein, das es einem ermöglicht, über sich und das Leben nachzudenken. Die Philosophin Prof. Lore Hühn arbeitet in einem Sonderforschungsbereich zum Thema Muße an der Uni Freiburg. Sie betont, dass Muße nicht das Gleiche ist, wie Freizeit. In gewisser Weise sei Muße sogar das Gegenteil von Freizeit. Von dem, was uns die moderne Freizeitindustrie fast schon aufdrängt. „Die Unterscheidung von Freizeit und Muse hat auch eine lange Tradition. Und hier lässt sich auch wiederum auf Aristoteles verweisen, der für Erholung sagt: ‚Das ist Zerstreuung der Arbeit. Das gilt der Reproduktion der Arbeitskraft und tritt damit auch in ein Gegensatzverhältnis zur Muße.'“

Oder auch Adorno – wie schon weiter oben erwähnt: „Freizeit aber ist nur die regenerative Phase, die der Arbeitsphase untertan ist.“ Darüber wir also in die Freizeit hinein noch der ökonomische Vektor verlängert.

„Also ist Freizeit nicht das, wo ich mich vom ökonomischen Zwang befreie, sondern Freizeit ist genau der Ort, wo ich genau diese Zwänge reproduziere.“ sagt die Philosophin. Schließlich soll wachsender Wohlstand die Freude am Leben steigern ;-). Und irgendwie wird das erarbeitete Geld auch wieder ausgegeben. Und so wird aus der Ferienwoche am Chiemsee ganz automatisch die Fernreise. Und neben dem Auto steht das zweite Auto oder das Motorrad in der Garage. Und noch im Urlaub arbeiten wir To-Do-Listen ab mit den schönsten Sehenswürdigkeiten, aus Sorge, unsere wertvolle Urlaubszeit nicht optimal zu nutzen. Wenn man nun schon mal da ist…

Prof. Hühn: „Unter dem Zwang der Selbstverwirklichung, der uns Stress macht, verfehlen wir gerade diese Muße am gründlichsten und auch die Selbstverwirklichung und bedürfen deshalb der Muße, um uns mehr lassen zu können und darin erst wieder zu dem Potenzial echter Selbstverwirklichung zu finden. Es gibt einfach eine Tendenz bei uns zur Selbstausbeutung. Und diese Tendenz zur Selbstausbeutung, die viele haben, die gar nicht mehr merken, dass sie auch Zwänge, Anforderungen verinnerlichen. Sie merken gar nicht mehr, dass es eine Fremdzuschreibung ist, die sie da an sich selber vollziehen.“ (Zitiert aus Podcast RadioWissenImmer mehr, immer schneller – Warum weniger für die Gesellschaft oft mehr ist)

Die vielen Angebote der Freizeitindustrie sind fast schon zur Bedrängnis geworden. Aus freundlichen Vorschlägen sind Konsumbefehle geworden: „Du musst und Du sollst!“

„Muße“ aber heißt, etwas aus freiem Willen zu tun und dabei zur Besinnung zu kommen.

Vormoderne Gesellschaften hatten ein „Muße“-Präferenz und auch in den östliche Kulturen haben die Menschen viel mehr danach gestrebt, nichts zu tun. Inzwischen hat sich aber diese westlich geprägte Arbeitsmoral nahezu bis in die hintersten Winkel der Welt durchgesetzt und allen voran vor allem in Ländern wie Indien und einer ursprünglich taoistischen Kultur wie China (→Blogbeitrag „Wu Wei“). Hier hat die Gier nach Macht und Einfluss die kulturelle Prägung weit überflügelt mit den uns allen bestens bekannten Konsequenzen. Damit hat der Einbruch des modernen Kapitalismus ältere religiöse Barrieren quasi beseitigt.

Und im Zeitalter der Globalisierung kann man nicht davon ausgehen, dass es solche „Restbestände“ noch lange gibt, in denen man wirklich noch „entschleunigt“ lebt und den „Müßiggang“ pflegt. Vor allem haben wir ja das Paradoxon, dass wir in solche Gegenden reisen und uns dort erholen wollen, da wir hier noch erleben können, wie Menschen langsamer und entspannter leben. In dem Moment, wo wir jedoch dort auftauchen, bringen wir Geld in Umlauf, schaffen so nicht gekannte Begehrlichkeiten und der ganze kapitalistische Kreislauf geht dann auch in diesen fernen Ländern los. Und außerdem: damit wir dort ausruhen können, müssen andere etwas schneller und etwas effektiver arbeiten. Was für uns natürlich aus unserem Blickwinkel ganz selbstverständlich ist. Und so verlangen wir, dass für unsere Ruhe die anderen noch sehr viel schneller werden …

Diesem Paradoxon können wir in meinen Augen eben nur durch ein verändertes Bewusstsein und einen Wandel hin zu menschlich basierten Werten entgegen treten.

Bleibt menschlich!

Iris

P.S. Folgende Beiträge zum Thema „Entschleunigung“ sind noch in der Pipeline:
10.12. Das Phänomen der Zeitnot
13.12. Die westliche Arbeitsmoral – eine christliche Tugend?
16.12. Selbstoptimierung
18.12. Muße will eingeübt sein
20.12. “Leistungsdruck: Ein Hoch auf die Faulheit”
22.12. Je schneller, desto reicher
24.12. Zwei Minuten Nichtstun
25.12. Macht uns ein schnelleres Leben krank?
28.12. Selbst Schuld oder Fehler im System?

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