„Leistungsdruck: Ein Hoch auf die Faulheit“

Smartphone ausstellen, Füße hochlegen, Seele baumeln lassen: Nichtstun. Der Traum vom Müßiggang ist alt – und brandaktuell. Dabei macht Faulsein jede Menge Arbeit. Das meint zumindest Udo Taubitz, der in seinem Artikel Leistungsdruck: Ein Hoch auf die Faulheit (SPIEGEL ONLINE, 13.06.12) dem Phänomen nachgeht. (Anmerkung: Für Taubitz ist Faulheit = Müßiggang, was ich jedoch begrifflich unterscheide →Blogbeitrag Faulheit ≠ Muße ≠ Freizeit).

Er schreibt weiter in diesem Artikel, ich zitiere: Meine Schwiegermutter erzählt gern, dass sie als Kind nicht Däumchen drehen durfte: Lieber hätte ihre Mutter ihr einen Knopf von der Bluse abgerissen und ihn dann von ihr wieder annähen lassen. Nichtstun war unvorstellbar. 

Heute schalten wir aus Angst vor Langeweile den Fernseher ein, rennen ins Fitnesscenter oder checken permanent unsere E-Mails. Und auch die Arbeit lässt wenig Zeit für Muße. Wer auf Stand-by schaltet, wird schnell als Leistungsverweigerer oder gar Versager abgestempelt, sagt Prof. Manfred Koch, der an der Universität Basel Philosophie lehrt. Doch langsam beginnt der Gedanke der Entschleunigung wieder an Akzeptanz zu gewinnen.

Kochs neues Buch heißtFaulheit – eine schwierige Disziplin‚. Es behandelt die großen Fragen des Burnout-Zeitalters aus historischer Perspektive. Und siehe da: In der Antike galt Muße als Ideal.

Sokrates beschrieb die Muße als ‚Schwester der Freiheit‘. Arbeit und Tugend schließen einander aus, stellte Aristoteles fest. Die Arbeit überließ man Sklaven und Ausländern. Vorbildlich lebte der Philosoph Diogenes, der angeblich in einem Fass dem reinen Müßiggang nachging. Als Alexander der Große ihn voll Mitleid nach seinen Wünschen fragte, soll Diogenes nur gesagt haben: ‚Geh mir aus der Sonne.‘ Hätte es damals schon die Euro-Zone gegeben, wäre Griechenland wegen dieser Einstellungen wohl rausgeflogen.

In der Bibel steht zwar: Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen, doch bis weit ins Mittelalter hinein war die Faulheit nicht mal in deutschen Landen ein Makel, sondern ein Privileg, ein Lebensideal, ein Weg zur tieferen Erkenntnis, bei dem die Arbeit nur im Wege stand. Bettler schnorrten damals noch ohne Gitarrenbegleitung.

Erst die Neuzeit brachte die Wende: Fortschrittsglaube und Industrialisierung machten den Faulenzer zum ungelittenen Parasiten.

Von Arbeit stirbt kein Mensch, aber von Ledig- und Müßiggehen kommen die Leute um Leib und Leben; denn der Mensch ist zum Arbeiten geboren wie der Vogel zum Fliegen, wetterte Martin Luther.

Das Leben wurde zur heiligen Pflicht, Müßiggang zur Sünde. Arbeit stieg zur zentralen Größe auf. Sozialismus-Erfinder Karl Marx verklärte die Arbeit zum Zentrum der Menschwerdung und Weltendeutung.

Verrückt nach Arbeit

Im Märchen vergoldet Frau Holle die fleißige Bettenaufschüttlerin, über die Faule kippt sie Pech. Seit Hunderten Jahren wird uns eingetrichtert, dass das Glück den Fleißigen gehört. Kein Wunder, dass wir verrückt nach Arbeit wurden.

In der DDR galt Arbeitspflicht. Wer sich entzog, wurde als ‚asozial‘ gebrandmarkt und musste Gefängnis fürchten. Im vereinten Deutschland ernten Frauen schiefe Blicke, wenn sie ’nur Hausfrau und Mutter‘ sind. Dauerarbeitslose werden in ‚Maßnahmen‘ berufsgestählt – eine teure und oft vergebliche Beschäftigungstherapie. Hauptsache, man tut was. Müßiggang ist aller Laster Anfang, sagt der Volksmund.

Es gibt kein Recht auf Faulheit, sagte Ex-Kanzler Gerhard Schröder.

Nichtstun ist uns höchst verdächtig. Ein Faulpelz hat nicht viel zu erwarten in unserer Gesellschaft, in der es üblich geworden ist, mit Stress anzugeben: Wer noch keinen Burnout hatte, hat noch nie für was gebrannt.

Als ich – so fährt Daubitz weiter fort – neulich im ICE von Frankfurt nach Hamburg fuhr, sah mein Gegenüber – ein beschlipster Mittzwanziger – mich irritiert an. Weil mein Handy nie klingelte? Weil ich mein Notebook nicht aufklappte, sondern die ganze Zeit nur las? Und zwar Muße. Vom Glück des Nichtstuns – eine unterhaltsame Mischung aus Essay, Ratgeber und wissenschaftlicher Analyse.

Der Physiker und Publizist Ulrich Schnabel beschreibt darin die Ursachen der allgemeinen Zeitnot (fast sämtlich hausgemacht) und hat Tipps parat für alle, die dem Drang zum Immer-mehr und Immer-schneller widerstehen wollen. (Zum Beispiel: am Sonntag alle Uhren in den Schrank packen.) Schnabels Credo: Im System der Gehetzten kommt man nicht umhin, auch die Muße zu planen. Das klingt schon wieder verdammt nach Arbeit.

Arbeitsvermeidung als Strategie

Aus dem Versuch, Arbeit zu vermeiden, sind die besten Ideen entstanden.

Johannes Gutenberg war zu faul, Bücher abzuschreiben. Karl Benz war zu faul, zu Fuß zu gehen. Der Taschenrechner wurde erfunden, weil intelligente Menschen zu faul zum Kopfrechnen waren. Angesichts der technischen Wunderwerke müssten wir heute mehr Zeit für Muße haben als alle Generationen vor uns. Pustekuchen. Im immer schnelleren Hamsterrad von Gütern, Geistesschöpfungen und Geld fehlt uns die Kraft für einen Richtungswechsel.

Aktivurlaub hilft nicht. Denn da geht es auch wieder darum, Neues höchst effizient zu erleben. Fallschirmspringen, Tiefseetauchen und Extrembergsteigen für jedermann sind Ausdruck sportlicher Selbstüberschätzung. Was als Urlaubsflirt beginnt, endet mit Beziehungsarbeit.

An der Unfähigkeit zur Muße leiden aber nicht nur erfolgreiche Manager, schreibt Ulrich Schnabel, sondern paradoxerweise auch jene, die ihre Arbeit verloren haben, die Ausgesonderten, Erwerbslosen, Zwangsentschleunigten. Denn in einer Leistungsgesellschaft, die das Wachstum, den Konsum und die Erlebnismaximierung feiert, wird das Nichtstun zum bitteren Genuss.

Der Berliner Spaß-Guerilla ‚Die Glücklichen Arbeitslosen‘ geht das Getue mit der Arbeitsmoral gründlich auf den Geist. Statt Trübsal zu blasen, solle man sich lieber einen schönen Lenz machen: ‚Immerhin verfügen alle Arbeitslosen über eine preiswerte Sache: Zeit. Das könnte ein historisches Glück sein, ein vernünftiges, sinn- und freudvolles Leben zu führen.‘

Aber erst einmal müsste das verschüttete Wissen von der aufbauenden Kraft der Ruhe wiedergewonnen werden. Also fangen wir am besten sofort damit an, gelegentlich so richtig faul zu sein, eine Arbeit bewusst von uns zu weisen, uns zu entspannen, herumzugammeln, uns komplett sinnlose Hobbys zu suchen, Freunde zu treffen.

(Ende des zitierten Artikels von Udo Taubitz)

Bereits veröffentlichte Beiträge zum Thema Entschleunigung:
Freizeit ≠ Muße ≠ Faulheit
Das Phänomen der Zeitnot
Die westliche Arbeitsmoral – eine christliche Tugend?
Selbstoptimierung
Muße will eingeübt sein

Folgende Beiträge dazu sind noch in der Pipeline:
22.12. Je schneller, desto reicher
24.12. Zwei Minuten Nichtstun
25.12. Macht uns ein schnelleres Leben krank?
28.12. Selbst Schuld oder Fehler im System?

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert