Vergleiche von Untersuchungen zur Wahrnehmungsfähigkeit aus den 1970er- und 1990er-Jahren zeigen, dass in diesen 20 Jahren die durchschnittliche Wahrnehmungsfähigkeit der Deutschen im Bereich des Geruchs- und Geschmackssinns, des Gehörs und des sexuellen Lustempfindens drastisch abgenommen hat. Um z.B. im Gehirn die gleiche Geschmacksreaktion wie vor 20 Jahren auszulösen, musste ein Reiz in der Dimension „süß“ um ein Drittel stärker sein als damals; andere Nahrungsmittel mussten um die Hälfte „salziger“ und „saurer“ sein, um denselben Geschmackseindruck zu erzeugen, und Bitteres wurde erst wahrgenommen, wenn es doppelt so bitter war. In den 70er-Jahren konnten die Deutschen im Durchschnitt 300.000 Klänge unterscheiden. In den 1990ern waren es nur noch 180.000 verschiedene Klänge. (…) Wo in früheren Jahrzehnten Bilder von Frauen in Unterwäsche in Wallung brachten, da kamen in den 1990er-Jahren viele Männer nicht einmal mehr bei einem Porno recht in Stimmung.
Ist diese Entsinnlichung ein Trend, der sich seitdem fortgesetzt hat?
Die Philosoph und Musiker Theodor Adorno (→Es gibt kein richtiges Leben im falschen.) bemerkte jedenfalls schon 1970 in seinem Buch „Erziehung zur Mündigkeit“: Der tiefste Defekt, mit dem man es heute zu tun hat, ist der, dass der Mensch eigentlich gar nicht mehr zu Erfahrung fähig ist…
Um uns orientieren und zurechtfinden zu können, sind wir darauf angewiesen, Reize aus der Umwelt aufzunehmen und zu interpretieren. Die Wahrnehmungsfähigkeit der Sinnesorgane selbst, so ergaben Untersuchungen, hatte nicht abgenommen, wohl aber die der Sinneszentren im Gehirn. Das Gehirn hatte ein neues Reizlimit gesetzt und sich geweigert, Reize zu verarbeiten, die unterhalb dieses neuen Limits lagen. Reize von außen wurden demnach unverändert aufgenommen. Die Vergröberung fand im Bereich der Umformung und Wahrnehmung der eigenen Signale im Organismus statt. Um ins Bewusstsein zu durchdringen zu können, sind nun also derbere oder häufig wechselnde Reize von außen nötig. Und tatsächlich hat sich, wie aus der gleichen Untersuchung hervorgeht, z.B. die Schmerzgrenze in Bezug auf Lautstärke deutlich erhöht. Die 100 Dezibel, die in den 70er-Jahren von Jugendlichen noch als schmerzhaft empfunden wurden, werden heute auf Konzerten und in Diskos klaglos toleriert.
Wenn wir möchten, dass unsere Kinder die Welt und sich selbst mit wachen feinen Sinnen wahrnehmen und erleben, sind wir aufgerufen, die Lebens- und Lernräume, in denen wir uns bewegen, entsprechend zu gestalten.
Der Ingenieur und Bewegungslehrer Moshé Feldenkrais hat darauf hingewiesen, dass Sensibilität nur wächst, wenn der Reiz vermindert wird.
Je kleiner die Kinder sind, desto wichtiger ist es, Umgebung zu gestalten, in denen starke Reize nicht dauerhaft wirken. Neben stimulierenden Impulsen brauchen Kinder und Erwachsene unbedingt auch Phasen der Ruhe und Stille.
(Nils Altner, Achtsam mit Kindern leben, Kösel-Verlag 2009, S.62f)