Als Ergänzung zum Beitrag Tiefenökologie: Ökologie – und darüber hinaus hier ein Kommentar mit dem o.g. Titel von BR2 online zu diesem ganzheitlichen naturphilosophischen Ansatz:
Auf den ersten Blick scheint die Tiefenökologie eine Art „Vorwurfsmaschine“ zu sein, denn sie konfrontiert den modernen Menschen mit all den Dingen, die er am liebsten von sich schiebt: mit dem Klimawandel und der Überbevölkerung, dem Rohstoff- und dem Wassermangel, dem Artensterben und der Ausbreitung totalitärer oder faschistoider Systeme.
Wir haben uns angewöhnt, möglichst wenig über derart großkalibrige Probleme nachzudenken und wenn, dann gerät die Auseinandersetzung schnell aus den sachlichen Fugen und wird zu Ängsten pathologisiert. Angesichts der Vielschichtigkeit der Herausforderungen reagieren wir bevorzugt mit der Vogel-Strauß-Taktik: Kopf in den Sand stecken und dem Weltgeschehen den Allerwertesten zeigen. Statt tiefgründiger, allgemein wahrgenommener Analysen des Gesamtzusammenhangs erfahren die globalen Probleme oft nur eine oberflächliche Behandlung, der Fehler steckt im System. Von den üblichen kurz greifenden Symptombehandlungen will sich die „deep ecology“ abheben. Sie geht deshalb von einem Beziehungsnetz aus, das die „Mitglieder des Erdhaushaltes“ miteinander und mit ihrer Umwelt verbindet. Damit streift die Wissenschaft von der Vernetzung aller Lebenssysteme gleich mehrere Bereiche: Ökologie, Ökonomie, Politik, Soziologie, Psychologie. Sie überschreitet vertraute Denk-Grenzen und Tabus und deckt die Schizophrenie unseres Verhaltens auf.
Der Ansatz zählt
Anders als beim üblichen Lamentieren rückt die Tiefenökologie die persönliche Einstellung und das daraus abgeleitete Handeln in den Mittelpunkt des Interesses: schonungslose Selbsterkenntnis statt allgemeinen Schuldzuweisungen, die Bereitschaft, Dinge zu verändern und damit bei sich selbst anzufangen. Im Zuge diese Besichtigung des Innenlebens stellen sich unangenehme Fragen: Strapaziert der Mensch sein Recht auf Gestaltung seiner Umwelt über Gebühr? Handelt es sich überhaupt um ein Recht? Wäre eine Rücknahme seines Eingriffs segensreicher für das Gesamtsystem? Und, weiter gedacht, sind die Gesellschaften der Gegenwart in der Lage die Grundbedürfnisse ihrer Mitglieder nach Liebe, Sicherheit und dem Zugang zur Natur zu erfüllen? Um die vielen Denkansätze zu kanalisieren, hat der norwegische Philosoph Arne Naess, einer der Väter der Bewegung, im Jahr 1973 einen Art ethischen Stufenplan formuliert. An Aktualität hat sein Wertekanon nichts verloren – Umweltprotokolle von Rio bis Kyoto klingen wie Echos auf das längst Gesagte.
Global denken, individuell handeln
Ein gänzlich neuer Aspekt von Naess‘ Argumenten war, die (Macht)Position des Menschen in Frage zu stellen: statt Krone der Schöpfung einfaches Mitglied des Ökosystems. Die Natur als sich permanent wandelndes System von Beziehungen ist der Wert an sich, sie zu bewahren und dem Menschen eine neue Bestimmung innerhalb ihres Kreislaufs zu geben, heißt das Ziel der tiefenökologischen Bewegung. Der Weg dahin ist aus mehreren Gründen schwierig: zum einen droht der weltumspannenden Sichtweise wegen des großen Deutungsspielraums Unschärfe, zum anderen will sie überzeugen, ohne ein Dogma zu sein. Der einfachste Zugang führt direkt über die Emotion, erklärt der Ökologe Bron Taylor: Zuneigung und Liebe seien die Grundpfeiler des Systems. Dazu kommen eine Art Urvertrauen in die Kräfte der Natur und die Dankbarkeit, ein Teil von ihr zu sein – Empfindungen, die vermutlich jeder schon einmal hatte. Sie stellen die breite Basis der Bewegung dar, die sich als Sprachrohr eines allgemeinen Lebensgefühls begreift: Ein nach allen Seiten offenes Gedankengebäude, das permanent neue Lösungsvorschläge hervorbringt. Breitgefächert sind auch die Strömungen, die die Tiefenökologie inspiriert haben: von der antiautoritären Erziehung über die Friedens-, Öko- und Frauenbewegung bis zur Globalisierungskritik. Auch die geschichtlichen Wurzeln reichen weit zurück: Die Steinzeitmenschen, mittelalterliche Mystiker, Spinoza, Goethe und Gandhi nennt Arne Næss als geistige Väter der Tiefenökologie. Wie die berühmten Vorbilder, gibt auch die ganzheitliche Ökologie wichtige Impulse, so sind eher die Prozesse als die Strukturen zum Forschungsgegenstand arriviert und interessanter als die Objekte scheinen inzwischen ihre Beziehungen untereinander. So haben viele Wissenschaften die Netzwerk-Theorie aufgegriffen und sind bemüht, Zusammenhänge herzustellen.
Gewinn durch Verzicht
Radikal weitergedacht führt die Theorie von der gegenseitigen Durchdringung aller Lebensformen zur Umformung der individuellen Persönlichkeit in ein „ökologisches Selbst“. Es schöpft seine Kräfte aus der Verbundenheit mit der Welt und hat den hergebrachten Gegensatz zwischen Gedanke und Tat überwunden. Die Formel heißt: Achtsamkeit nach innen, um verantwortlich nach außen zu wirken. Das schließt die Veränderung der Gesellschaft im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung mit ein. Beruhend auf den Grundsätzen von Gewaltlosigkeit, Dezentralisierung, der ökologischen Landwirtschaft, der Förderung alternativer Energien und dem Verzicht auf einen Konsum ohne Maß ist die Tiefenökologie zu einer Art Seele der modernen sozialen Bewegungen geworden – indem sie integriert und zusammenbringt, was unvereinbar schien. Und indem sie den Menschen auf dem schwierigen Weg zu einem notwendig veränderten Bewusstsein freundlich begleitet.
(Quelle: Bayern2 Radio Wissen: „Wenn Philosophie praktisch wird“, Autor: Dr. Geseko von Lüpke.)