Kann man Liebe haben?

Wenn man das könnte, wäre Liebe ein Ding, eine Substanz, mithin etwas, was man haben und besitzen kann. Die Wahrheit ist, dass es kein solches Ding wie „Liebe“ gibt. „Liebe“ ist eine Abstraktion; vielleicht eine Göttin oder ein fremdes Wesen, obwohl niemand je diese Göttin gesehen hat. In Wirklichkeit gibt es nur den Akt des Lieben. Lieben ist ein produktives Tätigsein, es impliziert, für jemanden (oder etwas) zu sorgen, ihn zu kennen, auf ihn einzugehen, ihn zu bestätigen, sich an ihm zu erfreuen – sei es ein Mensch, ein Tier, ein Baum, ein Bild, eine Idee. Es bedeutet, ihn (sie, es) zum Leben zu erwecken, seine (ihre) Lebendigkeit zu steigern. Es ist ein Prozess, der einen erneuert und wachsen lässt.

Wird Liebe aber in der Weise des Habens erlebt, so bedeutet dies, das Objekt, das man „liebt“, einzuschränken, gefangen zu nehmen oder zu kontrollieren. Eine solche Liebe ist erwürgend, lähmend, erstickend, tötend statt belebend.

Was als Liebe bezeichnet wird, ist meist ein Missbrauch des Wortes, um zu verschleiern, dass in Wirklichkeit nicht geliebt wird.

Entnommen aus: Erich Fromm „Haben oder Sein. Die seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft“, dtv Verlag, München 2001 (→Blogbeitrag Was ist es – Liebe!)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert